Intelligente mechatronische Produkte sind in vielen Branchen ein Treiber von Innovationen. Eine besondere Herausforderung besteht dabei oftmals in der Entwicklung kundenspezifischer und individualisierter Produkte. Die Anforderungen an das Gesamtsystem müssen hierzu bereits in einer frühen Phase der Produktentwicklung definiert und im Entwicklungsprozess berücksichtigt werden. Insbesondere bei mechatronischen Systemen müssen die Teildisziplinen Strukturmechanik, Elektrotechnik, Aktorik und Signalverarbeitung in einem ganzheitlichen Entwurf betrachtet und Wechselwirkungen der einzelnen physikalischen Domänen berücksichtigt werden.
Im Projekt »Digitalisierung in der Prüftechnik« haben die Experten des Fraunhofer LBF ein Vorgehen entwickelt, bei dem eine entwicklungsbegleitende Echtzeitsimulation den modellbasierten Entwicklungsprozess in drei wesentlichen Teilphasen unterstützt. In einer frühen Phase der Systementwicklung werden die Entwurfsparameter des mechatronischen Systems mit Hilfe eines automatisierten Verfahrens und einer angeschlossenen Echtzeitsimulation optimiert. In der weiteren Entwicklung können Echtzeitsimulationsmodelle in Hardware-in-the-Loop Tests integriert werden, wobei beispielsweise Steuergerätefunktion unter Berücksichtigung des Gesamtsystemverhaltens implementiert werden können. Bei der Systemvalidierung können, durch die am LBF entwickelte mechanische Hardware-in-the-Loop-Technologie, Echtzeitmodelle in Prüfaufbauten für mechatronische Systeme integriert und mechanische Eigenschaften des Gesamtsystems in der Prüfung berücksichtigt werden.
Zur Generierung echtzeitfähiger Simulationsmodelle wurde ein automatisiertes Verfahren entwickelt, das auf vorhandene Modelle aus Systemsimulationen, Finite-Elemente-, Mehrkörper- oder Schaltungssimulationen zurückgreift. Die eigens entwickelte Software überführt die Modelle in eine multi-physikalische Simulationsumgebung und reduziert – je nach geforderter Modellgüte – in einem nächsten Schritt die zu berechnenden Zustände. Somit können auch komplexe Modelle in die Echtzeitsimulation integriert werden. Durch eine abschließende Konditionierung unter Berücksichtigung der zeitdiskreten Berechnung kann eine hohe Modellgüte bis in den vibro-akustischen Frequenzbereich von 1 kHz erreicht werden. Durch eine vollständige Anbindung an die Programmierumgebung Python können schnelle Parametervariationen oder unterschiedliche Betriebsszenarien eingestellt werden.
Das beschriebene Vorgehen wurde im Projekt »Digitalisierung in der Prüftechnik« am Beispiel der Entwicklung eines aktiven Fahrwerks angewandt und eine Echtzeitsimulation des Gesamtsystems mit virtuellem Fahrer und wechselnden Fahrbahnuntergründen umgesetzt. Das Modell beinhaltet neben einer nicht-linearen Mehrkörpersimulation des Fahrwerks und eines Reifenmodells ebenfalls die strukturdynamischen Eigenschaften der Fahrzeugkarosserie in der Form eines reduzierten Finite-Elemente Modells. Die Komponenten des Federbeins mit semi-aktivem Dämpfer wurden mit Hilfe parametrischer Modelle mit konzentrierten Parametern in der Gesamtsystemsimulation berücksichtigt.
Die Reduktion der Modellkomplexität wurde dabei mit verschiedenen Verfahren umgesetzt. Das Finite-Elemente-Modell der Fahrzeugkarosserie wurde beispielsweise durch Anwendung mathematischer Verfahren der Modellordnungsreduktion von einigen hunderttausend auf wenige hundert Freiheitsgrade verringert. Dabei wird das dynamische Ein- und Ausgangsverhalten an den Anbindungspunkten des Fahrwerks sowie den Komfortpunkten an den Sitzschienen im Innenraum im definierten Frequenzbereich approximiert. Die Mehrkörpermodelle des Fahrwerks dagegen wurden durch smarte Simplifizierung und die komplexen elasto-kinematischen Übertragungsfunktionen durch neuartige funktionale Beschreibungen für die Echtzeitsimulation aufbereitet.
Im Projekt wurde die Echtzeitsimulation zur simulationsbasierten Optimierung einer Fahrwerksregelung genutzt. Zudem konnte die Echtzeitsimulation des Gesamtsystems in einer Betriebsfestigkeitsprüfung eines aktiven Fahrwerkssystems eingesetzt werden.
Durch die Expertise des Fraunhofer LBF im Bereich der Echtzeitsimulation und modellbasierten Entwicklung lassen sich bevorstehende Herausforderungen im Bereich der Vernetzung und Digitalisierung unmittelbar angehen. Im modellbasierten Systementwurf unterstützen Simulationsmodelle den Produktentwicklungsprozess bereits ab einer frühen Phase. Die Integration und Validierung der Konzepte und Prototypen kann anschließend mithilfe der Systemmodelle aus dem Auslegungsprozess geschehen. Dies führt zu schnellen und innovativen Entwicklungszyklen und unterstützt unsere Partner bei der Planung und rechtzeitigen Markteinführung ihrer Produkte.
Zudem erschließen die entwickelten Methoden weitere innovative und hybride Anwendungs- und Verwertungsszenarien. Die Zusammenführung von Produkten und Dienstleistungen zu hybriden Leistungsbündeln führt zu neuen Wertschöpfungsformen, welche von abgestimmten produktbegleitenden Dienstleistungen bis hin zu vernetzten Produkten im Bereich Internet-of-Things oder Industrie 4.0 reichen können.
Das Vorhaben wurde im Rahmen des Eigenforschungsprojektes »Digitalisierung in der Prüftechnik« durch das Fraunhofer-Institut LBF gefördert.