Unsere Mobilität befindet sich im Wandel: Die Elektrifizierung ist weltweit der Schlüssel zu klimafreundlicher Mobilität - zu Land, zu Wasser und zu Luft. Besonders in der Automobiltechnik ist diese Transformation spürbarer denn je und reicht von unzähligen Bedienelementen im Interieur mit aerodynamischen Anbauteilen und vielfältigen Sensoren im Exterieur über den Antriebsstrang von Elektrofahrzeugen bis hin zur Ladeinfrastruktur (z. B. Komponenten für Stecker, Buchsen, Säulen, Ladeboxen, etc.). Ob ihrer Eigenschaften kommen hier häufig technische Thermoplaste wie Polyamide, Polycarbonate, Polyester und ihre Blends zum Einsatz, je nach Anforderungsprofil unverstärkt, verstärkt und entsprechend additiviert.
Dabei müssen gute Verarbeitungseigenschaften zusammen mit hohen Anforderungen an mechanische Eigenschaften, Dimensionsstabilität, Flammwidrigkeit, Kriechstromfestigkeit, Alterungs- und Witterungsbeständigkeit vereint werden. Durch die immer stärkeren Ladespannungen und Ladeströme gewinnt das Thema Hochspannungs-Kriechstromfestigkeit zunehmend an Bedeutung.
In diesem Zusammenhang stellt die Prüfung zur Hochspannungs-Kriechstromfestigkeit nach DIN EN 60587 (Elektroisolierstoffe, die unter erschwerten Bedingungen eingesetzt werden) nach, wie stark sich die Isolationsfähigkeit einer Oberfläche bei hohen Spannungen (≥ 1 kV) im Freien unter dem Einfluss von Feuchte und Verunreinigungen ändert. Ist die Zeit zur Kriechwegbildung unter der jeweils angelegten Spannung größer als 60 min (time-to-track), gilt die Prüfung als bestanden. Die angelegte Prüfspannung wird sukzessive (in Schritten von 0,5 kV) erhöht und die Prüfung wiederholt. Das Prüfergebnis ist die maximale Prüfspannung, im Englischen auch als IPT-Wert (von englisch Inclined Plane Tracking) bezeichnet, bei der die Zeit zur Kriechwegbildung an jeweils fünf Proben > 60 min ist.
Dieser Test ist sehr zeit- und arbeitsintensiv und eignet sich daher nur begrenzt, um beispielsweise in der Entwicklung neuer Compounds als einfache und schnelle Methode zur Bewertung der Hochspannungs-Kriechstromfestigkeit eingesetzt zu werden. Auch sind Rückschlüsse aus anderen Prüfungen und Tests, wie dem für Spannungen bis 600 V genormten CTI-Wert (engl. Comparative Tracking Index) nicht möglich, da die Werkstoffe unter den verschiedenen Prüfanordnungen unterschiedliches Verhalten zeigen.
Daher ist es das Ziel dieses Verbundprojektes, umfangreiche Kenntnisse zu Wirkweisen flammgeschützter technischer Thermoplasten hinsichtlich ihrer Hochspannungs-Kriechstromfestigkeit zu entwickeln und zu vermitteln. Im Vordergrund steht zunächst das Eruieren der verschiedenen Einflussfaktoren auf ihr Verhalten im IPT-Test. Diese gilt es, zu gewichten und zu bewerten, um die relevanten Einflussgrößen für die Einstufung der Materialien nach dem IPT-Test ableiten zu können. Dabei werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Testverfahren CTI und IPT herausgearbeitet und miteinander verglichen. An geeigneten Modell-Compounds werden darüber hinaus Wirkweisen und mechanistische Grundprinzipien untersucht. Daraus werden Struktur-Eigenschafts-Beziehungen und idealerweise Methoden zur Vorhersage des Werkstoffverhaltens abgeleitet. Diese sollen den Projektteilnehmern ermöglichen, ihre eigene Material- und Produktentwicklung effizienter und zielgenauer gestalten zu können. Das Projekt soll darüber hinaus auch als interdisziplinäre Plattform von Akteuren der gesamten Wertschöpfungskette dienen, um zielgerichtet Lösungsansätze für die sich rund um den Themenkomplex »Flammschutz und (Hochspannungs-)Kriechstromfestigkeit« ergebende technische Problemstellung zu erarbeiten.
Im Vorhaben werden zunächst die wesentlichen Einflussfaktoren aus dem Stand der Technik hinsichtlich der Abhängigkeiten von CTI- und IPT-Prüfergebnissen zusammengetragen und vergleichend bewertet. Dabei werden systematisch material- und zustandsspezifische Faktoren betrachtet, wie die Art des Polymeren (Polyamide, Polyester, Polycarbonate), die Anwesenheit von Flammschutzmitteln, Additiven, Füll-, Funktions- und Verstärkungsstoffen, z.B. in Abhängigkeit der angelegten Spannung, des Wassergehaltes oder der Art und Menge von Verunreinigungen, etc.
Andererseits werden die heute bekannten Informationen zu Wirkweisen und Mechanismen (z. B. hinsichtlich Krustenbildung, Änderungen in der Oberflächentopographie, Pyrolyse, etc.) der beiden Prüfverfahren CTI und IPT zusammengetragen; schließlich werden die berichteten Korrelationen zu physikalisch-chemischen Untersuchungen (z. B. TGA, Laserablation, etc.) beschrieben. Daraus werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Prüfverfahren CTI und PIT herausgearbeitet. Gemeinsam mit den Projektteilnehmern werden die Einflussfaktoren gewichtet und unter Berücksichtigung individueller Anforderungsprofile Modellsysteme festgelegt. Diese werden im Folgenden näher und systematisch in Bezug auf ihr Verhalten im CTI- und IPT-Test in Abhängigkeit ihrer Zusammensetzung, Herstellungs- und Prüfbedingungen bewertet. Weiter wird das Brandverhalten im UL-94 Vertikalbrandtest bewertet. Im Rahmen des Projektes werden mehrere Compoundier- und Spritzgusskampagnen (max. insgesamt 60 Variationen) durchgeführt, um die Vielzahl der Einflussparameter weiter reduzieren zu können und die zugrundeliegenden Abhängigkeiten immer besser verstehen zu können. Die Detailplanung und Auswahl der Experimente erfolgen in enger Abstimmung mit den Teilnehmern und unter Berücksichtigung des jeweiligen Inputs.
Nach jeder Kampagne werden ausgewählte materialanalytische Untersuchungen durchgeführt, um die zugrundeliegenden Wirkweisen und Abhängigkeiten bei der Kriechwegbildung und Erosion näher verstehen zu können. Hier kommen verschiedene thermische (z. B. TGA, DSC), mikroskopische Methoden (z. B. REM, Raman-Mikroskopie, Weißlicht-Interferometer), spektroskopische und chromatographische Methoden (GPC, Pyrolyse-GC/MS) zum Einsatz. Auf diesen Erkenntnissen aufbauend werden Struktur-Eigenschafts-Beziehungen abgeleitet mit dem angestrebten Ziel, Abhängigkeiten im CTI- und IPT-Test besser zu verstehen. Darüber hinaus sollen diese Erkenntnisse für eine Abschätzung oder Vorhersage ähnlicher Werkstoffe in den genannten Prüfanordnungen dienen.